„Heute esse ich bei meinen Großeltern zu Mittag“, flüstert mir Sascha, ein deutschstämmiger Klassenkamerad, während der Schulstunde ins Ohr. Dabei schaut er aufgeregt nach der Uhr, wackelt ungeduldig auf dem Stuhl und endlich, es klingelt! Er packt mit einem Ruck die Schultasche, ein kleiner Wink und Tschüss, weg war er.
Ich kann mich noch sehr genau daran
erinnern, wie ich Sascha an jenem Augenblick beneidet habe. Meine
Gedanken waren auf einmal bei meinem Opa: ‚Ach wie gerne ich doch in dem
Moment bei ihm wäre, mit ihm zu Mittag essen und mir seine Geschichten
anhören würde‘, dachte ich an jenem Mittag! Er konnte sehr fesselnde,
spannende und witzige Geschichten über sich selbst erzählen. Als
Jugendlicher hat er sich nämlich einen mutigen Traum verwirk-licht. Er
wollte die Welt außerhalb seiner Heimat sehen und hat sich als einer der Ersten Gastarbeiter im Ausland beworben. „Damals hatte ich noch Adrenalin im Blut (delikanli)“, beschrieb er stolz seine eigene Jungend.
Wer kennt das Gefühl nicht? Der Traum,
die Welt zu erkunden, zu reisen und am Ende der Reise sich im emotional
verwurzelten, eng vertrauten „Sweet-Home“ wieder zu finden. „Nirgendwo
ist es schöner als im eigenen Zuhause“, kennt man aus dem Volksmund. Im
Märchen “Der Zauberer von Oz” hat der Satz sogar noch geheißen: “Es ist
nirgends besser als Zuhause”. Trotzdem möchten wir es nicht missen zu
verreisen, an ausgewählten Orten der Welt anderen Menschen zu begegnen,
andere Kulturen und andere Lebenseinstellungen kennenzulernen. Ich denke, insgeheim hat uns Jules Verne mit seiner Geschichte
vom englischen Gentleman Phileas Fogg, der „In 80 Tagen um die Welt“
reiste, immer schon begeistert. Der Traum, ach wie schön es doch wäre,
in die unbeschwerte Rolle eines Weltenbummlers zu schlüpfen und dabei
Abenteuer zu erleben, ist ein jedermanns Traum und spricht jedes Herz
an. Oft muss ich beim Lesen dieser Geschichten an meinen
enthusiastischen Opa denken.
Auch der im April 2012 von Jason Mraz
veröffentlichte Song mit dem Titel „93 Million Miles“ erinnert mich an
das Bild, das ich von meinem Opa in seiner Jugend habe. Der Text vom
Song klingt sehr vertraut, weil er Teil unserer Träume ist und unsere
innigsten Herzenswünsche reflektiert. Gleichwohl verführt die Melodie
uns beim Hinhören in die Welt der Abenteuerlust. Beim genauen Hinhören
ist sogar eine weitere herzergreifende Botschaft zu entnehmen. Mutter
und Vater, die ihrem Sohn neben Lebensweisheiten die fürsorgliche
„Sweet-Home-Message“ mit auf den Weg des Lebens geben:
Oh, my my how beautiful, oh my beautiful mother She told me, “Son in life you’re gonna go far, and if you do it right you’ll love where you are Just know, that wherever you go, you can always come back home”Oh, my my how beautiful, oh my irrefutable father, He told me, “Son sometimes it may seem dark, but the absence of the light is a necessary part. Just know, you’re never alone, you can always come back home”
‘Zuhause ist ein Ort, an dem unsere
Wurzeln liegen, wir unsere Kindheit verbracht haben und wir von Anbeginn
unseres Lebens Geborgenheit empfinden und Fürsorge erfahren durften.
Sei es nun elterliche, verwandtschaftliche, freundschaftliche Fürsorge
oder lediglich die Fürsorge unserer Mitmenschen, die wir als
Geborgenheit verspüren.‘ So in etwa klingen meine Worte, wenn ich zu
diesem Thema in mein Herz horche und nach einer Definition für
„Sweet-Home“ suche.
Eine allgemeingültige Definition zum
Begriff „Sweet-Home“ wird es – so denke ich – allein schon deshalb nicht
geben, weil mit diesem Begriff die Erfahrungen und die Empfindungen bei
jedem einzelnen Menschen unterschiedlich ausfallen. Die einen würden
aussagen, „Sweet-Home“ ist dort, wo die eigenen vier Wände, vertraute
Familienmitglieder, vertraute Verwandte und vertraute Freunde sind.
Andere wiederum würden aussagen, „Sweet-Home“ ist dort, wo die Eltern
wohnen. Wiederum andere würden sagen, „Sweet-Home“ ist die Heimat der
Eltern, weil dort jedermanns Wurzeln liegen. Die Antworten werden
genauso verschieden sein, wie die Kombination der Wahrnehmung der oben
genannten Merkmale.
Eines werden allerdings alle Antworten
gemeinsam haben: „Sweet-Home“ bedeutet, Vertrautheit, Wohlgefühl,
Empfindsamkeit, emotionale Nähe, ein Ort mit viel Verständnis und der
Möglichkeit, sein zu dürfen, wie man ist und wie man sein will.
Auch ich habe dieses Gefühl schon
vielfach erlebt. Sei es nun innerhalb meiner eigenen vier Wände, bei
meinen Eltern, bei meinen Freunden oder beim Besuch meines geliebten
Opas. Obwohl meine Eltern in diesem Kontext emotional hervorragen, ist
erfahrungsgemäß auch mein Opa ein besonderes Bindeglied in dieser
emotionalen Kette.
Meine Geschwister und ich fühlen uns mit
meinem Opa aus unterschiedlichen Gründen eng verbunden. Neben meinen
Eltern ist er der einzige Verwandte, der uns wegen ähnlicher Erfahrungen
verstehen kann. Anknüpfend an unsere gemeinsamen Erfahrungen gab er uns
immer das Gefühl, zu ihm zu gehören.
Als Gastarbeiter kam mein Opa Anfang der
60’ger Jahre nach Deutschland. Er blieb bis einschließlich 1973 und
verließ noch im selben Jahr die Ferne – zurück in Richtung Heimat. Bei
unseren Besuchen in Istanbul hat er gerne meinen Geschwistern und mir
seine Erfahrungen aus seiner Zeit in Deutschland erzählt. Seine
Erzählungen klangen wie die Abenteuer des Phileas Fogg, so als würde er
wirklich aus dem Roman von Jules Verne zitieren. Beim Erzählen frischte
er seine Deutschkenntnisse auf und gab uns zu verstehen, dass er uns
nicht nur sprachlich verstehe, sondern auch unsere Erfahrungen
nachempfinde. In all seinen Erzählungen hat er von seinem Aufenthalt im
fernen Deutschland geschwärmt. Trotzdem empfand ich einen
unausgesprochenen Unterton, ähnlich wie die fürsorgliche
„Sweet-Home-Message“ aus dem Song „93 Million Miles“ von Jason Mraz:
just know, that wherever you go, you’re never alone, you can always come back home.
Mein Opa ist im Januar 2012 an den
Folgen eines Autounfalls gestorben. Vor diesem Vorfall hab ich mich oft
mit der Frage auseinander gesetzt, wo meine Wurzeln sind. Meine Antwort
ist eindeutig: Mein Opa ist meine Wurzel! Bei ihm habe ich mich zuhause,
geborgen und verstanden gefühlt.
Heute stelle ich mir die Frage, wo sind
jetzt meine Wurzeln, mein Zuhause, der Ort, an dem mein Herz sich wohl
fühlt. Mittlerweile weiß ich, dass mit Home ein Stückchen Erde gemeint
ist, in die wir die Menschen, die wir lieben, begraben und in die die
Menschen, die uns lieben, uns irgendwann einmal begraben werden. „Wir
sind aus Erde erschaffen und zur Erde werden wir zurückkehren“, so in
etwa könnte ich mein Empfinden zusammenfassen. Deshalb beschäftigt mich
eine weitere Frage: Wo will ich selbst begraben werden? Will ich an
jenem Ort begraben werden, an dem ich meine Kindheit verbracht habe?
Will ich in der Stadt, in der ich wohne oder in der meine Eltern wohnen,
begraben werden? Wedernoch!
Home ist dort, wo das Herz weiß
hinzugehören, und das ist dort, wo ich meine Wurzeln begraben habe und
selbst verwurzelt sein möchte. Home ist nicht zwangsläufig der Ort, an
dem wir aufgewachsen sind. Home ist eine Empfindung!
Deshalb dürfen polemische Politiker, aus welcher Parteirichtung auch immer, uns deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund
nicht einen (angeblichen) Mangel an emotionaler Integration
attestieren. Emotional vernetzt sind wir in der globalen Welt von heute
schließlich in mehrfacher Hinsicht! Ganz nach dem Zitat von Goethe:
„Hier bin ich Mensch, hier will ich sein“! Allerdings geht es in diesem
Kontext um das menschliche Bedürfnis, folgende Frage selbstbestimmt
beantworten zu dürfen: Mit wem bin ich herzlichst und emotional
verwurzelt?! Diese Frage muss sich jeder Mensch selbst beantworten
dürfen, ohne ein weiterer Opfer der demagogisch geführten Politik zu werden!